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Fahrendes Volk – Anmerkungen zu Billibs Bildern der phantastischen Malerei
Für das jeweils kommende Jahr faßt Hans-Joachim Billib einen mutigen Vorsatz: Er will ein
besonders großformatiges Bild schaffen. Damit nicht genug. Es muß auch etwas ganz anderes
sein, als das, was der Berliner sonst Tag für Tag malt, und wofür er in rund drei Dezennien
Aufmerksamkeit und Wertschätzung erworben hat: Das sind Stadtansichten, Landschaften und
Seestücke, zudem Stilleben. Diese Arbeiten sind ganz und gar dem Realismus verpflichtet, sie
sind äußerst subtil formuliert und koloriert, und manche zeichnet ein geradezu sphärisches
Licht aus. Dem Porträt widmet sich Billib nur sporadisch. So sind selbst seine grünen Idyllen
und Meeresstrände menschenleer. All diese Werke besitzen eine starke meditative Kraft. Ihre
Formate sind selten mehr als mittelgroß, zumal die Ansichten vor dem Motiv in der Natur
entstehen, und die Leinwand schon deshalb handlich bleiben muß.
Mit seinem Jahreswunsch genehmigt Billib sich eine Freiheit, mit der er seinem Grundgesetz
abschwört: Denn hier folgt er der Parole der phantastischen Malerei. Der Traum, das
Imaginäre, die ins Logische verkehrte Unlogik findet hier Eingang in seine Arbeiten. Das
Wunderbare – von dem es bei André Breton, dem Herold des Surrealismus, 1924 hieß, es sei
immer schön – wird hier zu einer höheren Wirklichkeit, der unsere Sinne und unser Verstand
ganz fraglos vertrauen. Gemäß Giorgio Morandis Credo, es gebe nichts Surrealeres und nichts
Abstrakteres als die Realität.
Es gibt Maler, die in ihren Werken einen Stillstand der Zeit konstatieren. Bei diesen drei Bildern
Billibs könnte man meinen, die Uhr sei lediglich für einen Moment gestoppt worden, um
sogleich wieder loszuticken. Die sich abzeichnenden Ereignisse werden geschehen. Auf dem
Gemälde "Brüder" kündigt sich geradezu eine rasante Katastrophe an, ein wahrer
"Blockbuster". Das Wunderbare wie auch Verwunderliche und Absonderliche regt vor
Malereien stets zu Gedankenspielen, zu Deutungsversuchen an. So ist es auch bei den
Gemälden von Hans-Joachim Billib, der seine frappierenden Inspirationen mit fotografischer
Präzision höchst suggestiv inszeniert. Er ist es durchaus gewohnt, daß ihm beim Malen in der
Natur Zaungäste über die Schulter schauen und das Entstehende mit der Vorgabe vergleichen.
Doch hier bei der phantastischen Malerei gibt es nichts dergleichen. Der Betrachter sieht keine
Vorgaben und fragt sich, woher bezieht der Künstler die Ideen, die Anregungen, die Einfälle.
Und sich rein meditativ in ein Werk zu versenken, kann hier auf Dauer nicht gelingen. Verstand,
Erinnerungsvermögen, Gefühle und eigene Sehnsüchte drängen zu Fragen. Und vor allem zu
spekulativen Antworten. Zwei Personen können vor ein und demselben Werk drei völlig
verschiede Meinungen haben. Auch darin besteht der Reiz der neuen Bilder. Der Maler indes
enthält sich strikt jeder Stellungnahme.
Drei Jahre vergingen, seit Hans-Joachim Billib den Entschluß zu seiner neuen Malerei faßte.
Und wie selbstverständlich sind also drei dieser phantastischen Schöpfungen entstanden,
ausgeführt in Öl auf der Großleinwand. Vor allem ein Novum unterscheidet diese "Extra-
Werke" von den sonstigen: Hier treten Personen fulminant in Erscheinung.
Auf dem ersten Gemälde des Trios, "Brüder" von 2003 (190 x 190 cm), erscheinen zwei
Ganzfiguren vor einer Stadtsilhouette. "Wir" von 2004 (140 x 190 cm) überrascht durch ein
Kniestück des Malers und eines Doppelgängers. "Fahrendes Volk", vollendet 2005 (ca. 250 x
300 cm), stellt uns ein junges Mädchen mit einem Stier an der Leine vor und noch einmal den
Maler als Ganzfigur. Alle drei Werke kennzeichnet eine poetische Ruhe. Bei längerem
Zwiegespräch wird man jedoch von Irritationen erfaßt, die einen wie eine Erzählung
davontragen.
"Die Natur – die bürgerliche Gesellschaft hat es nicht ganz geschafft, sie auszulöschen –
schenkt uns den Zustand des Träumens'', sagte René Magritte, "und mit ihm die Freiheit, die
Körper und Geist so notwendig brauchen." Wir alle kennen Träume, die uns rückhaltlos
glücklich machen können. Aber auch andere, die unsere Ängste wie eine Arche aufnehmen
und sie irgendwann irgendwo wieder an Land setzen, wodurch sie wieder gegenwärtig sind.
Schon der Titel "Brüder" löst sogleich die anscheinend unvermeidliche Assoziation aus, hier
handle es sich um Kain und Abel. Denn ein Mann, der im linken Vordergrund des Gemäldes
liegt, ist offensichtlich tot. Ein Hirtenhund scheint anteilnehmend sein Gesicht zu berühren. Wir
sehen nur ein dünnes Blutrinnsal. Werden wir doch sonst bei jeder Gelegenheit mit Fluten von
Blut in den Medien, im Film und Theater konfrontiert. Barock geraffte Tücher in Weiß und
Himmelblau decken die Lenden des bleichen, elegant gelagerten toten Körpers, wodurch er die
Anmutung einer Heiligendarstellung erhält. Seine Zehen weisen auf einen Schädel, der unter
einer Steinplatte hervorlugt. Ist das als Anspielung auf Golgatha zu verstehen, was ja
Schädelstätte bedeutet?
Vor dem Stamm einer mächtigen Esche (die zur Gattung der Ölbaumgewächse zählt), steht
über den Füßen des Toten ein Mann von kräftiger Statur. Nachdenklich betrachtet er einen
schweren Stein in seinen Händen. Handelt es sich um die Tatwaffe? Der ein wenig
fremdländisch wirkende Mann trägt eine korrekte schwarze Hose und ein frisch gebügeltes
weißes Oberhemd, jedoch merkwürdigerweise keine Schuhe. Ist er der Mörder? Oder nur der
Finder der Leiche? Durch solche Fragen wird der Kunstfreund notgedrungen zum Kriminalisten
Warum erkennen wir keine Ähnlichkeiten zwischen den Physiognomien beider Brüder? Bleiben
wir noch einen Moment bei dem ersten Verdacht, es handle sich hier um Kain und Abel. Kann
man nicht generell behaupten, wir seien auf der Welt alle Geschöpfe des höchsten Wesens,
also Kinder des jeweiligen Gottes? Und somit versetze uns jeder Krieg, jeder Terroranschlag in
das schmähliche Rollendrama mörderischer Brüder?
Was genau geschah damals im Fall Kain und Abel? Die beiden Söhne Adams opferten ihrem
Gott. Das Opfer des Schäfers Abel wurde wohlwollend aufgenommen, das des Ackermanns
Kain aber ungnädig. Invidia est odium. Neid ist Haß, heißt es in Spinozas "Ethik". Aus Neid
erschlug Kain seinen Bruder Abel. Zur Strafe wurde er verdammt und vertrieben. Der Sieger
ging leer aus. Wie auch nach unseren Kriegen. Daß Kain im Lande Nod zu Reichtum gelangte,
das erfahren wir in der Bibel nicht.
Hingegen charakterisiert der Schweizer Freudschüler Leopold Szondi Kain zur Symbolgestalt
des Kapitalismus. Kain "ist ein Materialist ( ... ) der auf die Grenzen seines Habguts
mißtrauisch acht gibt und die Allmacht durch Besitz und Haben über alles, was da ist, hebt."
Szondis kainitisch-zivilisatorische These gipfelt konzequent in der Zerstörung unserer Welt:
"Und so leibt und lebt er (Kain) heute noch ( ... ). Er hat sich nicht verändert." Also egal, ob
Kriege geführt, Industrien gegründet oder verlagert werden, die Welt wird zerstört.
Die zweite biblische Anmutung vor dem "Brüder"-Gemälde thematisiert die Steinigung des
Erzmärtyrers Stephan. Wohl in erster Linie, weil der Stehende einen Stein umfaßt hält und
weitere Steine verstreut umherliegen. Außerdem scheinen die massenhaft herandrängenden
flachen Haufenwolken einen Steinhagel zu simulieren.
Nach der Vollendung des Gemäldes, der Maler betont "nach", stieß er in der Apostelgeschichte
auf den Ausruf des Heiligen: "Ich sehe den Himmel offen..." Und Billib verweist auf die
Tatsache, daß sein Himmel einen Riß aufweist, also offen ist. Der Riß zerreißt sogar die Stadt
im Hintergrund. Ein Hochhaus mit über zwanzig Stockwerken ragt zwar noch kerzengerade in
die Höhe. Doch kurz über der Basis schwebt es bereits in der Luft. Und in der nächsten
Sekunde wird es wie ein Kartenhaus zusammenklappen. Es wird seine Umgebung unter sich
begraben wie auch das sinistre Amtsgebäude mit der Flagge auf dem Dach. Wie sich das
Desaster auswirken kann, ist uns allen seit dem 11. September 2001 unvergeßlich.
Was geschieht hier, Gottes Wille oder Menschentücke? Bogenlinien tragen am Himmelsblau
zur weiteren Verstörung bei: Sie scheinen sphärische Flugbahnen anzuzeigen. Ankündigung
eines Weltensturzes?
Das freundliche Sommerlicht trügt wie süßliche Propaganda. Golden blüht der Löwenzahn.
Aber die weißen Samenbällchen, von Kindern Pusteblumen genannt, wird der Wind
davontragen. Wie wohl alles, was wir hier sehen. Wie schon die ungesagten Worte: "Soll ich
meines Bruders Hüter sein?"
Auf einem launigen Selbstporträt präsentiert sich René Magritte mit vier Händen. Der Surrealist
zeigt uns, wie vorteilhaft eine solche Ausstattung beim Dinieren sein kann (''Le Sorcier
(Autoportrait aux 4 Brax), 1952). Billib indes tritt uns in zweifacher Gestalt entgegen. Daß ihm
diese Selbstverdoppelung behagt, lassen uns die ernste Miene und der skeptische Blick
bezweifeln. Und das mal zwei. Das Werk trägt den Namen "Wir". Ist gemeint "Wir beide" oder
"Wir zu dritt"? Jedenfalls posiert Billibs treue Hauskatze Mica als drittes Wesen im Bunde.
Freunde kennen sie von dem Ölbild "Verhülltes Stilleben mit Katze" (2000). Mica kommt auf
dem Bild "Wir" die Rolle einer Kronzeugin zu. Denn sie betrachtet das wunderliche Maler-Duo,
als trete es mit vollster Selbstverständlichkeit so auf und nicht anders. Gewiß, im
Verbrechermilieu erscheint zuweilen ein Doppelgänger, doch da handelt es sich um zwei
biologisch völlig verschiedene Individuen. In der Dichtung, etwa in Kleists "Amphytrion", kann
zur Vorteilsnahme der eine in der Person des anderen agieren. Aber auch dort hat die
Verschmelzung beider keinen Bestand auf Dauer. So wechselt am Schluß Jupiter, der in der
Gestalt des Feldherrn Amphytrion dessen Gattin Alkmene verführte, wieder in seine Göttlichkeit
zurück.
Bei Magritte begegnen uns übrigens mehrere nahezu identische dunkle Herren mit Melone, die
simultan auftreten. Und es ist ungewiß, was sie eigentlich im Schilde führen.
Der Name Billib erfüllt die Kriterien des Stilbegriffs Palindrom. Das heißt, beide Lesarten, ob
von rechts oder links, ergeben dasselbe Wort. Warum nicht aus zwei Lesarten ein und
desselben Namens zwei Betrachtungsweisen des alleinigen Namensträgers kreieren?
Was bewog also Billib zu diesem Doppelselbsporträt Er weiß es nicht. "Vielleicht habe ich mir
einmal einen Zwillingsbruder gewünscht..." So klingt die lakonische Eigeneinschätzung – wenig
überzeugend.
Beide Figuren sind nahezu spiegelgleich. Die Haltungen sind nur leicht unterschiedlich gedreht.
Die Kleidung absolut identisch: geöffneter beiger einreihiger Wettermantel, dunkle
Kombination, schwarzer Pullover, dunkler offener Schal. Ein Outfit zum Ausgehen.
Der Katze mißfällt der Anblick. Sie sitzt auf einem soliden Tisch, präzise: auf dem verutschten
weißen Tischtuch. Der Tisch wiederum steht auf einem schmucken schwarzweißen
Fliesenboden. Er erinnert an ein Schachbrett, das Symbol der Machtspiele, die bekanntlich bis
zum Patt und Schachmatt führen können. Auch im übertragenen Sinn. In diesem Fall wie weit?
Das Element der Katze ist die Häuslichkeit. Aber um was für ein Haus handelt es sich hier? Die
Außenwand besteht aus einem dünnen, grauen Kulissenelement, versehen mit zwei
Fensteröffnungen, jedoch ohne Fensterrahmen und Scheiben. Das Trio doppelter Maler und
Katze befindet sich wohl im zweiten Stock. Zur ihrer Fensteröffnung führt eine Leiter empor, am
Gesims ist sie abgesägt. Gewährt sie den einzigen Zugang und Abgang? Oder den
Notausstieg? Auch die Leiter besagt, daß wir uns hier auf einer Baustelle befinden. Das heißt,
der gegenwärtige Zustand ist unfertig. Die Vollendung ungewiss. Der Blick hinaus fällt auf eine
dunkle Winterzsenerie mit angejahrten Bürgerhäusern unter einem dunkelblauen
Dämmerhimmel mit Abendrotwolken. Direkt gegenüber ein düsteres Wohnhaus, dessen zwei
erleuchtete Fenster im Obergeschoß unterm Krüppelwalmdach die Möglichkeit einer
Nachbarschaft suggerieren. Doch es zeigt sich dort niemand.
Der zum Gehen gekleidete Mann in doppelter Ausführung – was soll er tun? Er ist unschlüssig.
Der Rechte vergräbt die Hände in den Manteltaschen. Er scheint zum Gehen entschlossen.
Verbirgt sich hinter den strahlenden Scheiben des gegenüberliegenden Hauses ein
verlockendes Ziel? Der Linke zieht es wohl vor, sich an den Tisch zu Mica zu setzen. Doch
ohne Sitzgelegenheit? Aber nein. Er ist ja Maler! Und so zeichnete er sich mit Kreide einen
Küchenstuhl auf die Kulissenwand. (Nach der sprichwörtlichen Redensart: Man muß sich zu
helfen wissen, sagte der Bauer, und band sich den Schuh mit 'nem Regenwurm zu.) Die
Inselstadt Berlin galt bis zum Fall des Eisernen Vorhangs als Provisorium, also fast durch ein
halbes Jahrhundert. Heute erleben Besucher sie als eine einzige Baustelle. Obwohl das
Quartier um das Brandenburger Tor inzwischen als Zentrum der Macht und des
kosmopolitischen Umtriebs glänzt und schillert. In gar nicht so abseitsgelegenen Vierteln indes
ist der Leerstand bei Immobilien augenfällig, ob bei Wohnungen, Geschäften, Büros oder
Produktionsanlagen. Manche Fabriken erwarben Erfolge im Zeichen der
"Entlassungsproduktivität" (wie es heute heißt). In fünf Jahren soll es in Deutschlands einst
größtem Industriestandort keinen einzigen Industriearbeiter mehr geben. Eine halbe Million
Einwohner sollen die Metropole in den letzten' zwanzig Jahren verlassen haben. Doch das
Stadtleben muß weitergehen. Man muß sich arrangieren. Und es ist vielleicht dieses
zwiespältige Gefühl des Heimisch-sein-Wollens und des Ungeborgenseins im Zeichen der
"Mobilität", das den Maler gleichzeitig zum Bleiben veranlaßt und zugleich zum Aufbruch
motiviert. Wie soll er sich entscheiden? Noch im Mittelalter wurden Katzen magische Kräfte
zugemessen. Warten wir auf die Wirkung.
"Fahrendes Volk", das bisher letzte Gemälde der Reihe phantastischer Malerei, greift die Frage
nach der Beschaffenheit der eigenen Existenz wieder auf. Der Titel erinnert an Thomas Manns
leichtlebige "Zigeuner im grünen Wagen", die über Land ziehen, zu denen sein Schriftsteller
Tonio Kröger als Bürgersohn partout nicht gehören wollte.
Doch was sehen wir? Auf der linken Bildhälfte (man gestatte den altmodischen Ausdruck) eine
Jungfrau, die einen Stier am rosaroten Schleifenband führt. Auf dem rechten Flügel den Maler
mit seinem zusammengewürfelten Umzugskram.
Das Gemälde ist in der Mitte durch eine Leiter geteilt, die frei in den Himmel zu führen scheint.
Beide Bildhälften werden durch den Blick des Malers zum Mädchen und durch das
Hinübergreifen der linken Mädchenhand mit der Schleife verklammert.
Zur Leiter vernimmt man natürlich sogleich den anscheinend zwingenden Einwurf, das sei eine
Jakobsleiter. Man muß nicht sehr bibelfest sein, um das ablehnen zu können. Auf der Leiter,
die Jakob auf seiner Wanderschaft im Traum sieht, stiegen Engel auf und nieder. Und auf der
Spitze stand der Herr und prophezeite ihm, dem Sohn Isaaks, Land und eine reiche
Nachkommenschaft. Tatsächlich wurde Jakob Vater von zwölf Söhnen und durch sie zum
Stammvater der zwölf Stämme Israels. Die schnöde Bauleiter auf dem Gemälde erbringt
jedoch nichts von den Voraussetzungen einer Himmelsleiter, vor allem nicht die Dimensionen.
Sie ragt zwar über den oberen Bildrand hinaus, doch führt sie gewiß ins Leere. Ihre Basis
"entmaterialisiert" sich über dem Boden und gibt so den Blick ungehindert frei ins weite Terrain
der Mitte, eine staubige, schattenlose Unendlichkeit unter leicht bewölkter Seidenbläue. Weit
hinter dem Maler im rechten Teil stehen fensterlose Abbruchhäuser, im linken Flügel über dem
Stier Rudimente, die an Ruinen auf der Museumsinsel denken lassen. Billib hat übrigens
manche Berliner Ansichten während ihres Wandels oder Untergangs in Öl auf Leinwand
festgehalten, wie ein Chronist.
Auch mit dem nächsten Kommentar, bei dem Mädchen mit dem Rind handle es sich um
Europa mit dem Stier, vermag man sich nicht anzufreunden.
Der Stier verkörpert die aufs Sexuelle gerichtete naturhafte Vitalität. Er war als Symbol der
Fruchtbarkeit Zeus geweiht. Nach der Mythologie näherte sich der notorisch verliebte Gott als
schöner weißer Stier sanft der am phönizischen Strand Blumen pflückenden Königstochter
Europa. Er gewann ihr Vertrauen, und sie stieg auf seinen Rücken. Sogleich entführte er sie
übers Mittelmeer von Phönizien nach Kreta. Auf der Insel nahm der göttliche Stier vor der
bangenden Jungfrau Menschengestalt an. "Weißt du nicht, daß Jupiter (Zeus) dein Gemahl
ist? / Laß das Schluchzen, lern, wie man trägt mit Würde / Ein so großes Glück! Wird die halbe
Welt nach / Dir sich doch nennen." So erhielt, nach Horaz, unser Kontinent seinen Namen.
Europa gebar drei Söhne, unter ihnen Minos. Sie wurden von ihrem späteren Gatten Asterion,
dem König der Insel, aufgezogen.
Die Entführung der Europa wurde seit der Antike bis in die Gegenwart häufig künstlerisch
dargestellt. Zu den frühen Werken gehört ein Relief von ca. 550 v. Chr. auf dem Tempelfries
von Selinunt auf Sizilien (Museo Nazionale, Palermo). Mit der Wiederentdeckung des Altertums
als Motivarsenal bedienten sich auch gefeierter Meister des schaurig-schönen Themas "Raub
der Europa", wie etwa Raffael, Tizian, Rembrandt. Ein Gobelin, der nach einem Werk Francois
Bouchers gewirkt worden war, schmückte einen Raum im kaiserlichen Berliner Stadtschloß.
Doch mit unserem bescheidenen Mädchen die mythologischen Protagonisten samt den
illustren Namen ihrer "Huldiger" in Zusammenhang zu bringen, erscheint etwas angestrengt.
Noch eine letzte Anmerkung: Bei Billib wird nicht die "Prinzessin", sondern augenscheinlich der
Stier "entführt". Das wäre also die Umkehrung der Sage. Aber für mythologisierende
Geschichten, die in der Gegenwart handeln, gibt e's keine Gläubigen. Beherzigt man indes den
Ausruf Bretons, so fände auch hier das Wunderbare und sogar Verwunderliche seine
Gemeinde. Zur "Entführung" des Stiers genügt dem kindlichen Fräulein ein rosa Schleifenband,
das am Nasenring befestigt wurde. Das Mädchen selbst ist nicht zum Showgirl hochstilisiert.
Sondern es tritt uns als schlichte Nachbarstochter mit Pausbacken und zwei blonden
Pferdeschwänzen entgegen. Entschlossen nimmt es die vorderste Position am Bildrand ein.
Rank und schlank, trägt es ein schwarzes Trikot, dazu eine weiße Strumpfhose mit einer
Laufmasche über dem rechten Knie. Sie könnte Sportlerin sein, eine Ballettschülerin. Oder eine
Artistin, die im Zirkus mit dem Stier Kunststücke vorführt (wie auf dem Fresko im Palast zu
Knossos). Doch das scheint alles absurd zu sein. Oder einfach wunderbar?
Der Stier galt seit je als Inbegriff der wilden Tierhaftigkeit. Ihn zu besiegen (in der Antike auch
Teil des Dionysos-Kultes), bedeutete die Überwindung der animalischen Leidenschaften. Das
mag eine Erklärung für die Popularität des Stierkampfes in einigen südlichen Ländern geben.
Der Gang des Mädchen mit dem gebändigten Stier im Gefolge – kann der nicht schlicht
verstanden werden als Annäherung einer Initiandin an das Stadium der Reife zur Frau?
Das folgsame Rind scheint übrigens der einzige Besitz der jungendlichen "Fahrenden" zu sein.
Dagegen sieht es beim Maler im dunklen Wettermantel geradezu üppig aus. Er hat sich hinter
ein absurd erscheinendes Sammelsurium von "Umzugsgut" zurückgezogen. Doch wir kennen
die Objekte von seinen Stilleben. Etwa alte Bücher, dicke Kerzen, eine Eisenkugel, eine
Sanduhr, Blumentöpfe, Flaschen, ein ungleiches Paar Schuhe, eine Mehltüte, Koffer ... Zu den
größeren Stücken zählt ein Wagenrad (Hinweis auf den "grünen Wagen""), in der Mitte ein
Beistelltisch mit weißem Deckchen (Souvenir einer geordneten Lebenführung?), am rechten
Rand der weißlackierte Küchenstuhl, den wir als Wandzeichnung vom Gemälde "Wir" kennen.
Man denkt an eine Beckett-Bühne. Für längere Wartezeiten hat er mit einem großen Glas
Trinkwasser vorgesorgt, einem Regenschirm, einem blauen Frotteetuch, einem Schachspiel.
Doch was soll das Huhn unter all den Requisiten? Richtig, es war ja schon bei der
Völkerwanderung so, daß das Federvieh seinen Stamm auf dem Marsch begleitete. Scherz
beiseite. Gibt es ein deutlicheres Zeichen für Hoffnungslosigkeit, als einen in über Mannshöhe
gekappten gesunden Baum? Doch. Und das ist ein Schienenpaar, dessen amputierte Enden
am unteren Rand ins Bild hineinragen. Wartende brauchen nach dem Bahnhof erst gar nicht zu
fragen.
Daß man in einer derartigen Weltleere, wie sie hier aufscheint, den elementaren Wunsch nach
einem Ortswechsel verspürt, liegt auf der Hand. Doch welche Optionen bieten sich an? Einen
Moment der Hoffnung vermittelt das wohlgemute Mädchen: Es läßt das Ende des rosafarbene
Schleifenbandes über einer goldene Krone pendeln, die hinter ihm auf dem Tischchen neben
dem Regenschirm ruht. Man möchte von einem glücklichen Märchen träumen.
Das Gemälde "Fahrendes Volk" wurde mit einem sockelartigen Untersatz versehen, mit einer
Predella, die man von spätgotischen Altären kennt. Sie konnte einen Reliquienschrein
aufnehmen oder mit gemalten oder skulpierten Darstellungen das Motiv des Altars anreichern.
Hier sehen wir in der vollen Breite einen Streifen Ziegelmauerwerk mit waagerechten
Vertiefungen. Könnte es schlicht die Fundamentierung dieser maroden Stadtregion
andeuten? Das Mauerwerk assoziiert zunächst einen verwinkelten Keller. Besonders seit dem
Bombenkrieg und dem "Zusammenbruch" kann eine Kelleranlage ein angstbesetzter Ort sein.
Und bekanntlich vermögen Thriller auf Buchseiten wie auf der Kinoleinwand die psychische
Spannung durch Aktionen in finsteren Gängen unter der Stadt bis ins schier Unerträgliche zu
steigern (wie etwa in Graham Greenes Welterfolg "Der dritte Mann", verfilmt 1947).
Doch angesichts des Paares Mädchen und Stier auf dem Gemälde drängt sich der Gedanke an
das mythische kretische Labyrinth, die tiefe Höhle mit verschlungenen Stollen, geradezu auf.
Sie war als unterirdisches Gefängnis des Minotauros ein wahrer Schreckensschlund. Denn
dieses Ungeheuer mit Menschenleib und Stierkopf (Picassos Radierung, 1935) wurde mit
Jünglingen ernährt, die Athen als Tribut liefern mußte. Der Minotauros war übrigens der
Nachkomme von König Minos Gattin Pasiphae und einem rein animalischen un-göttlichen
Stier. Der attische Held Theseus tötete den Stier-Menschen und fand mit Ariadnes Faden aus
der Finsternis wieder ans Tageslicht.
Heutzutage sprechen wir von einem so genannten roten Faden, der uns aus problematischen
Irrwegen heraus zu einer klaren Lösung zu führen vermag, so man ihm Folge leisten kann. In
unseren Bereichen kennen wir auch erfreuliche Aspekte des Labyrinths. So kann etwa ein
Irrgang im Rokokogarten etwas sehr Amüsantes sein, wenn sich in ihm verliebte Paare suchen.
Am Ausgang wartet das Elysium auf sie (wie im Wörlitzer Park), und man glaubt sich "in die
lachenden Gefilde der Seligen versetzt".
Ein letztes Mal zurück zum Gemälde "Fahrendes Volk". Vielleicht geleitet das Mädchen im
Spiel den Anführer ihrer imaginären Herde zu einem blumigen Strand.
Und der Maler wandert allein durch seine Phantasie auf der Fährte einer Idee zu einem neuen,
geheimnisvollen Gemälde.
Paul Otto Schulz
Post scriptum
Im Jahr 2008 vollendete Hans-Joachim Billib das vierte Gemälde der phantastischen
Reihe. Sein Titel: "Heim". Wir sehen eine Landschaft mit drei Personen im
Vordergrund. Der Hauptprotagonist ist ein frontal dargestellter unbekleideter junger
Mann. Nach der klassischen Terminologie handelt es sich um einen Akt. Aber der
Darbietung fehlt es an allem, was wir von der Aktmalerei gewohnt sind, gleich ob mit
weiblichen oder männlichen Modellen. Vor allem die Intimität und die Leichtigkeit des
Ambientes. Seine straffe Haltung gleicht der eines Kouros der archaischen Griechen,
es fehlt also jede Pose des Heroischen oder Religiösen. Das Gesicht trägt porträthafte
Züge, der leicht athletische Körper wurde sorgfältig ausformuliert.
Der Jüngling steht an der vordersten Bildkante. In seinem Rücken ein wüstes Areal,
das weder als vorstädtisch noch postindustriell oder eindeutig als Nachkriegslandschaft
einzuordnen ist. Drei kubische Häuserblöcke reihen sich mit Abständen vom linken
Bildrand in den rechten Hintergrund. Wären sie nicht ziegelrot, könnte man sie für
Hochbunker des Zweiten Weltkriegs halten, für zivile Zwecke hergerichtet, um etwa
Flüchtlingen, Spätheimkehrern oder Wanderarbeitern eine Bleibe zu bieten. An die
Nachkriegszeit könnten sowohl die Trümmerfassade rechts im Bild als auch die
Mauerstümpfe erinnern. Überhaupt die weite, öde Ebene! Ein raues Terrain, das von
querlaufenden Gräben strukturiert wird. Sie werden von breiten Bohlen gekreuzt, die
aus der Tiefe des Raumes in den Vordergrund drängen, als hätten sie irgend wann
Autokonvois zur Anfahrt dienen sollen. Aber daß von all den vermuteten
Geschehnissen sich tatsächlich irgend etwas ereignet habe, darauf deutet nichts. Es
herrscht eine Stimmung der Ungewissheit, getränkt mit den Elementen Einsamkeit
Vergeblichkeit, verlorene Zeit, Zukunftslosigkeit. In den Himmel recken sich Pappeln
wie dürre Arme. Er mag sich nicht entscheiden wie zwischen Himmelblau und
Dämmergrau. Ein Lichtstreifen kündigt den Untergang des Tages an. Eines weiteren,
der nichts "zeitigte"
Unser Nackter verharrt auf einem kippeligen Brett, das von einer Mauerkante einen
ungewissen Abgrund überbrückt. Er scheint zum Überschreiten der Kluft entschlossen.
Jedenfalls noch. Oder hat ihn schon die Lähmung ergriffen? Sein indifferenter
Gesichtsausdruck gibt Rätsel auf. Er erinnert an den Hamlet der Hamburger
Inszenierung von Michael Thalheimer, von dem Gerhard Stadelheimer schreibt, er
habe "in dieser völlig durchgeknallten Fix-und-fertig-Welt von vornherein keine Chance
als den Tod. Er steht meist frontal an der Rampe und guckt schwer und traurig ins
Publikum. Man sieht einen hoffnungslosen, lustlosen, leblosen, ins geschlossene
Kunstwelt-Korsett gepressten Melancholiker." (F.A.Z. 7. 4. 2008) Statt der Kunstwelt
könnten wir hier vielleicht ein durch maßlose Pflichten eingeschnürtes Dasein
annehmen.
Fakt ist, unser "Held" ist allem Anschein nach zwar ein leistungsfähiger Mann, und
doch steht er entblößt und orientierungslos auf schwankendem Grund.
Die Frau hinter ihm auf festem Boden hält ein weißes Tuch bereit, um den Rücken des
Mannes zu bedecken. Und, sollte er sich ihr zuwenden, seinen gesamten Leib. Auch
sie ist noch jung. Adrett und nett bekleidet. Am Hals eine Kette, im dunklen Haar ein
rotes Band. Warum ohne Schuhe? Gleich neben ihrem ernsten Gesicht eine
Trümmerfassade. Aus den leeren Fensterhöhlen droht das Grauen. Ihr Mund ist fest
geschlossen. Aber ihr Angebot steht. Dieses Gemälde trägt den Titel "Heim", ohne
Interjektion. Andernfalls gerieten wir sogleich zu der Überzeugung, die Frau würde den
attraktiven Mann zum Heimgang (!) auffordern. So aber bleibt das Happy End
ungewiss. Wie auch die Frau wenig Hoffnung zu hegen scheint.
Links am Bildrand verharrt eine dritte Person: Ein molliger Frührentner in Jeans und
rotem Pulli. Er scheint an der Begegnung kaum interessierter zu sein als sein Begleiter,
ein gedrungener Mischhund. Er wird also nicht einschreiten, weder helfend noch sonst
wie.
So sehen wir uns mit einem Dreieck der Beziehungslosigkeit konfrontiert in einer "Fix-
und-fertig-Welt". Nur die Frau ist es, die mitmenschliches Interesse zeigt. Was unseren
Mann veranlaßte, sich nackt und bloß auf den Abgrund zuzubewegen – wir erfahren es
nicht. Eine erste Option, um aus der Tristesse gerettet zu werden, würde ihm der Titel
"Heim" anraten. Mit Ausrufezeichen. Doch für ihn wäre das wohl eine Unmöglichkeit.
Wie jede andere auch.
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