Angeln: Eine Landschaft wird gesehen

Es sind vor allem die Hochgebirgslandschaften, die den Autor dieser Zeilen beeindrucken. Das von Immanuel Kant beschriebene Gefühl der Erhabenheit, welches sich beim Anblick hochaufragender Bergriesen einstellt, ist ihm wohl vertraut – sei es nun in der Natur selbst oder auf einem Bilde gemalt. Von Kant wurde dieses Gefühl schon als das Fühlen von Kunst definiert, eine kühne These, die von Künstlern und Kunstfreunden immer in Frage gestellt wurde. Doch, was immer der Grund gewesen sein mag, Kunst oder Natur, viele Reisen nach Skandinavien, nach Schweden, Finnland und vor allem nach Norwegen, bis hinauf ans Nordkap, hat der hier Schreibende zusammen mit seiner Frau unternommen, um immer wieder neue Variationen von schneebedeckten Bergen und unberührten Hochebenen zu sehen.In Hardangar und in Jotunheimen wanderten wir die steilen Hänge hinauf, durchwateten die reißenden Flüsse der Täler und die gleißenden Schneefelder der Hochlagen. Es ist ein Verlust des menschlichen Maßes, der sich in den weglosen Weiten, zwischen Eis, Steinen und gigantischen Bergen einstellt: ein Verlust, der das Gefühl von Erhabenheit hervorruft.

In der Nähe von Gelting, auf der Halbinsel Angeln, haben wir dann vor siebzehn Jahren ein Domizil gefunden, welches dem geliebten Norden schon ziemlich nahe ist. In dem von Endmoränen geformten und von zwei Förden durchzogenen Land meldet sich die Struktur des Nordens. Im langewährenden, schrägen Licht der Sommerabende stellt sich ein Abglanz jener Mittsommernacht ein, die in Skandinavien klar und zeitlos die Tage reiht. Schließlich sind da noch die verbindenden nördlichen Meere, die Nord- und die nahe Ostsee: Durch letztere schoben einst unvorstellbare Eismassen die granitenen Findlinge auf das Angeliter Land, als wären es Kiesel.

Die hiesige Landschaft ist längst zur Ruhe gekommen. Das Gefühl der Erhabenheit weicht beim Anblick der sanft gehügelten Felder eher dem der Geborgenheit. Die kalten Zeiten sind bereits seit fünfzehntausend Jahren vorbei, die Küsten seit Jahrhunderten durch Deiche geschützt, und da, wo Eichen standen, wogen jetzt Weizenfelder. Das einst wilde Nordland ist zu einer Kulturlandschaft geworden. Schon zwischen drei- und zweitausend vor Christi begannen hier die ersten zaghaften Versuche einer Landwirtschaft, einer Kultur: Rinder wurden auf die Koppel getrieben, Wege angelegt, Gräber aus Findlingen gebaut und den Göttern wurde an heiligen Plätzen geopfert. In der Antike galt Haithabu als die, im ewigen Nebel gelegene, nördlichste Stadt der damaligen Welt. Das fruchtbare Land wurde früh besiedelt und seine Geschichte ist lang und verworren. Fast alles aus dieser langen Geschichte liegt im Nebel der Vergangenheit und bleibt wohl für immer vergessen. Ab und zu pflügt ein Bauer ein Steinbeil aus dem Boden oder es findet sich eine Pfeilspitze am Strand. Doch wissen wir trotz dieser Zeichen nicht, wie es wirklich gewesen ist.

Der Mensch gestaltet die Landschaft fortwährend um, zieht Gräben, fällt Bäume, rodet Steine und legt Senken trocken. Nach dem Krieg hat man dann die großflächigen Felder angelegt und viele Knicks dafür beseitigt. Der parkähnliche Charakter der Landschaft veränderte sich dadurch und tendiert heute eher zu einer Felderlandschaft. Jetzt markieren Telegrafenmasten unübersehbar das Land, und Häuser mit roten Ziegeln treten mehr und mehr an Stelle der Katen mit den Reetdächern.

Wenn nun ein Maler sich auf eine Auseinandersetzung mit der Angeliter Landschaft einläßt, will sagen, sie zu malen versucht, kann er die nördlich geprägte Natur und erst recht nicht die vom Menschen gestaltete Landschaft und ihre Geschichte übersehen. Das heißt, daß in eine gemalte Landschaft auch das Unsichtbare, nämlich die Naturgeschichte wie die Geschichte einfließen.

Etliche Maler sind in Angeln in den letzten Jahren ansässig geworden und es wollen mehrere folgen. Einige dieser verstreut lebenden Einzelgänger haben sich der Auseinandersetzung mit der Landschaft gestellt. Nikolaus Störtenbecker, zum Beispiel, gilt als einer der ersten und standhaftesten, während der hier vorgestellte Hans-Joachim Billib als ein regelmäßiger und häufiger Gast anzusehen ist. Über die Hälfte seiner Landschaften sind in Gelting und Umgebung entstanden.

Bei dem Maler Hans-Joachim Billib spielt, wenn er Ansichten von Schleswig-Holstein malt, die Geschichte des Landes die geringste Rolle. Der Anblick von Landschaft war ihm als Großstadtmenschen, als Berliner, lange Zeit mehr oder weniger fremd. Offene Himmel hatte er kaum gesehen. In einen von Sternen übersäten Nachthimmel blickte er in Gelting zum ersten Mal. In Düstnishy sah er die erste Sternschnuppe seines Lebens, da war er achtundzwanzig. Aber diese Sternschnuppe, die er hier sah, war dafür auch besonders hell und zog fast über den halben Himmel. Mit den Augen eines Neulings sieht der Maler Billib noch immer die Landschaft.

Sein am Impressionismus geschulter Blick mustert die braunen Äcker mit den hellen Himmeln darüber, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Mit dem gleichen Blick setzt er die weißen Kumuluswolken ein: genau da, wo sie sich gerade befinden. Alles was er sieht wird uns lapidar mitgeteilt: das Rapsfeld bis zum Horizont, die Pappeln vor dem Schuppen, die Telefonmasten im gewellten Acker, die Spiegelungen im Noor und die fernen Ziegeldächer. All das ist gesehen mit diesem unterkühlten impressionistischen Blick. "Man stößt trotz allem manchmal auf Dinge, die sich dem Verstand mit der Überzeugungskraft eines Axioms einprägen, ohne daß man weiß warum", sagt Becketts Molloy. Ein Satz, den sich der Maler zu eigen gemacht hat, und in diesem Sinne sieht Hans-Joachim Billib das Land. Trotz dieser Vorurteilslosigkeit schwingt die Geschichte der Landschaft mit in seinen Bildern. Obwohl er sie bei seiner Malweise ganz ignoriert, ihre Spuren nicht sieht und wenig von ihr weiß, lassen seine Bilder uns das Land auch in seiner Vergangenheit erkennen. Sogar etwas aus der Geschichte können wir erahnen, und das ist schon wie ein Wunder.

Klaus Fußmann