Ausnahmen und die Regel

Über meine Arbeit zu schreiben, fällt mir schwer; aber vielleicht gewinnt ja der heiße Brei etwas an Gestalt, indem ich um ihn herum schreibe.

Bei der Fahrt durch die Stadt oder durch die Landschaft, beim Spaziergang oder auch bei längerem Verharren an einem Ort, entdecke ich Ansichten, von denen ich sofort weiß, daß ich davon ein Bild machen kann. Manchmal behalte ich das Gesehene einfach in der Erinnerung, gelegentlich mache ich aber auch eine kleine Bleistiftnotiz in meinem Skizzenbuch. In vielen Fällen bleibt es bei der Skizze, noch öfter bei der Erinnerung.
Durch Mangel an Gelegenheit bleibt manches Bild ungemalt.
Auch Veränderungen am Ort können das Malen vereiteln. In der Stadt wird, zum Beispiel, gerne ein neues Haus zwischen mich und mein potentielles Motiv gebaut, bevor ich mit der Arbeit beginnen konnte, oder es wird ein altes abgerissen.
In der Landschaft ist die Gefahr einer Veränderung nicht so groß. Die Jahreszeiten gehen zwar vorüber, aber ich kann auf das folgende Jahr warten und dann beginnen. Nur selten entsteht eine neue Scheune, hin und wieder wird ein Baum vom Blitz zerschlagen, manchmal bricht ein Stückchen Steilküste weg oder ein Teich trocknet aus, aber im Großen und Ganzen schuldet die Stadt mir mehr.
Vom ersten Augenblick an weiß ich, wie groß das Bild werden muß, um dem Thema gerecht zu werden. Komme ich dann mit meinem Malzeug zurück, habe ich auch eine Leinwand in der entsprechenden Größe dabei.
Ich liebe es, auf selbst grundierter Leinwand zu arbeiten und habe immer einen gewissen Vorrat an verschiedenen Formaten in meinem Atelier. Manchmal jedoch ist die richtige Größe nicht vorrätig, und ich benutze ausnahmsweise eine von fremder Hand grundierte Leinwand.
Meine Malutensilien transportiere ich in einer umgebauten Einkaufskarre. Darin befindet sich alles, was ich für die Arbeit brauche... eine Kiste mit Ölfarben und Pinseln, Terpentin, Lappen, Klebeband und so weiter. An einer Seite des Wagens kann ich die Staffelei befestigen; so brauche ich nur eine Hand für die Ausrüstung... die andere ist für die Leinwand.
Weil es schon passiert ist, daß mir durch einen Windstoß ein fast fertiges Bild samt Staffelei entgegen kam, und ich es nur stoppen konnte, indem ich die Palette mit all ihren Farben dagegen drückte, bin ich dazu übergegangen, zu allererst die Staffelei sicher aufzustellen.
In der Landschaft nagele ich parallel zu den drei Beinen lange Eisennägel in die Erde. Daran befestige ich die Staffelei mit Klebeband. In der Stadt suche ich eine günstig gelegene Laterne, oder ein Verkehrsschild zu nutzen. Ist es sehr windig, kommt noch ein Rundholz als Stütze dazu geklebt, dann erst wird die Leinwand befestigt, und die Palette vorbereitet. Von jeder Farbe wird ein wenig aus der Tube gedrückt, etwas Terpentin zum Verdünnen kommt in den Palettenstecker und die große Terpentinbüchse zum Pinsel reinigen auf eine Zeitung am Boden.
Nun erst beginnt die eigentliche Arbeit.
Zunächst mische ich eine mehr oder weniger braune Farbe an, die ich dann sehr dünn und sehr rasch über die weiße Leinwand verteile. Dadurch entsteht eine lebendige Oberfläche von mittlerer Helligkeit. Mit der gleichen Farbe beginne ich dann, das Bild auf der Leinwand anzulegen... zunächst nur ganz skizzenhaft. In dieser Phase der Arbeit geht alles sehr schnell. Ich gucke oft bei der Natur ab, um von dem Angebot auszuwählen, was mir gut und wichtig scheint. Mißlungene Stellen werden mit dem Lappen entfernt und dann mit neuen Strichen korrigiert... auch hellere Partien entstehen durch den Lappen... noch ist alles offen. Ist die Bildanlage in hellerem und dunklerem Braun fertig, folgt die Anlage der Lokalfarben.
Schicht um Schicht wächst das Bild. Es klingt nach Routine, ist es aber keineswegs... ich habe kein Rezept; jedesmal wird aufs Neue entdeckt.
Manchmal vergehen Stunden, nach deren Ablauf ich nicht weiß, wie die Farbe auf die Leinwand kam... außer, daß es durch mich geschah.
In der Regel brauche ich mehrere Sitzungen, bis ein Bild fertig ist. Diese Sitzungen erfolgen übrigens am liebsten stehend...ich arbeite stehend, nur in sehr seltenen Ausnahmen sitzend...
Kehre ich dann an einem der folgenden Tage zurück, um weiter zu arbeiten, finde ich oft noch die Nagellöcher vom letzten Mal. Die Staffelei wird wieder sehr sorgfältig befestigt, die Palette vorbereitet und so weiter, nur beginne ich nicht mit einer leeren Leinwand... diesmal kann ich schon etwas verderben!

Die Zeit während der Vorarbeiten benutze ich, um mich sozusagen in einen Kokon aus Trotz einzuspinnen, der mich bei der öffentlichen Arbeit schützen soll.
Normalerweise bin ich ja bei der Arbeit in der Landschaft alleine. Besonders an grauen Tagen sind nicht viele Menschen unterwegs... zu Fuß... in der Natur. Dann gehört die Erde ganz mir, und ich kann mich mit der Atmosphäre vollsaugen, und hoffen, daß etwas davon seinen Weg ins Bild findet. Bei Sonnenschein sieht die Lage anders aus... dann ist ein Maler in einer Landschaft naturgemäß ein Anziehungspunkt. Spaziergänger nehmen gerne einen kleinen Umweg in Kauf, um einen Blick auf die Leinwand zu werfen. Sie stören mich keineswegs bei der Arbeit...durch meinen Kokon geschützt, kann ich mich auf ein kleines Gespräch einlassen, ohne zu unterbrechen. Die folgenden Bemerkungen stehen meist in direktem Zusammenhang mit dem Fertigstellungsgrad des Bildes. Gerne wird auch auf Standards wie "Meine Tante malt auch, aber nur Aquarell" oder "Wenn wir hier stehen bleiben, werden wir dann mit gemalt?" zurückgegriffen.
Herren, in Damenbegleitung, bemerken gerne, daß ich einen Hochspannungsmast oder ein Stopschild übersehen habe...

Aber es gibt auch überraschende Ausnahmen, wie das kleine Mädchen, das mich fragte, ob ich denn auch Pocahonthas malen könnte!
"Hallo!" dachte ich "Die wird eines Tages meine Rente bezahlen." Als Vertreter meiner Generation denke ich bei Pocahonthas zuerst an Arno Schmidt, und ich wundere mich noch, daß die Kleine ihn schon gelesen hat, als sie mit ihrer Puppe schwenkt und mir klar wird, daß die Disney-Version gemeint ist...

Je weiter die Arbeit fortschreitet, desto weniger häufig schaue ich nach dem Motiv. Obwohl ich sehr nahe an der Realität arbeite, zögere ich nicht, etwas von dem tatsächlich Vorhandenen weg zu lassen, wenn es für das Bild besser ist; ebenso erfinde ich manchmal etwas dazu, wenn es mir nötig erscheint.
Mehr und mehr folge ich den Bedürfnissen des Bildes. Wenn ich Glück habe, sagt mir ein gutes Bild am Ende selbst, was es noch braucht... oder was es zuviel hat.
Ich gebe erst Ruhe, wenn ich nichts mehr sehe was mich stört. Ist das Bild erst einmal fertig, soll es ganz auf sich allein gestellt in der Lage sein, sich zu behaupten...

Manchmal möchte ich ein Motiv nicht finden, sondern nehme mir ganz fest vor eine bestimmte Stelle zu malen...wie zum Beispiel im Sommer 1998 in Venedig.
Ich hatte 10 Leinwände im Gepäck, aber ein Motiv stand schon vor der Reise fest: ich wollte die Basilica San Marco malen!
Wie schon gesagt stören mich Zuschauer nicht, aber das war doch ein Härtetest... noch nie habe ich vor so viel internationalem Publikum gearbeitet... tausende Touristen auf dem Markusplatz, die mich als Hintergrund für Urlaubsfotos und Amateurvideos wählten... dazu umschwirrten mich Tauben wie die Männer Marlene Dietrich......
Ein Italiener sprach mich an, und obwohl ich ihm mehrfach klar zu machen versuchte, daß ich ihn nicht verstehen kann, fuhr er fort mit seinem Redeschwall. Nach mehreren Minuten bildete ich mir dann ein, doch folgendes zu verstehen: Er wäre ebenfalls Künstler, mißbillige aber die Arbeit mit Farbe, einzig Schwarz und Weiß dürfe man seiner Meinung nach benutzen... alles andere sei Mist! Vielleicht stimmt es ja, daß man sich nur lange genug im Lande aufhalten muß, um die Sprache zu erlernen.
Das Bild gelang mir am Ende doch ganz gut, und unter all den Menschen, die darauf zu sehen sind (auch das eher eine Ausnahme, aber was wäre ein Markusplatz ohne Menschen), stehen ganz vorne zwei, die Tauben füttern und einige Ähnlichkeit mit Claude Monet und seiner Frau haben.
Sage noch jemand, in der gegenständlichen Malerei käme das Unterbewußtsein nicht auf seine Kosten.

Die Atelierarbeit ist sozusagen das Gegenteil von Venedig. Hier bin ich, wenn nicht gerade ein Modell bei mir ist, allein.
Hier entstehen meine Stilleben. Die werden nicht gefunden sondern erfunden... in der Regel. Ganz selten stehen im Atelier, durch zielloses Hin- und Herräumen, ein paar Dinge so zusammen, daß ich es mir nicht besser wünschen könnte, aber normalerweise wird gebaut.
Meist geht das Stilleben von einem Gegenstand aus, der mich reizt; einer Kanne oder einem Glas, oder auch von ein paar Birnen aus dem Supermarkt. Ich kaufe also die Birnen und stelle sie auf... eine lege ich hin... ich verschiebe sie... versuche verschiedene Dinge mit den Birnen zu kombinieren... ein Tuch, ein helles... ein paar leere Flaschen, dunkle, und ganz allmählich merke ich, was noch fehlt oder was zu viel ist. Irgendwann ist alles an seinem Platz, und es stellt sich das gleiche Gefühl wie in der Landschaft ein: ich weiß, daß das jetzt zu einem Bild werden kann.

Nach einer Phase der Landschaftsmalerei finde ich es sehr angenehm, im Atelier zu arbeiten. Das Licht kommt von Norden. Für die Stillebenmalerei ist das besonders angenehm, weil sich die Schatten nicht durch die Erddrehung ständig verändern... in der Landschaft stört mich das merkwürdigerweise nicht.
Es klingt vielleicht albern, ist aber durchaus ernst gemeint: auch die Abwesenheit von Wind genieße ich.
Obwohl die Landschaften fast ausschließlich draußen fertig gestellt werden, gibt es doch die Ausnahmen. Manchmal erscheinen mir einige Stellen im Himmel noch zu unruhig oder das Gras könnte noch einige Halme mehr vertragen... Solche Dinge lassen sich sehr gut bei Windstille und gleichmäßigem Licht erledigen.

Ich arbeite nicht nach Fotografien... eine Winterlandschaft im warmen Atelier malen? Nee! Das geht nur draußen... auch wenn ich mir dabei ein wenig den Arsch abfriere!
Sehr schön war das im März 1996, als die Ostsee zugefroren war und ich den ganzen Nachmittag auf dem Eis stand und arbeitete... Schwäne flogen in geringer Höhe... unter mir knackte das Eis und glänzte im späten Nachmittagslicht. Nach Sonnenuntergang kam mein Bruder vom Haus, um mir zu helfen. Er packte mein Zeug zusammen und verschloß die Farbtuben... meine Finger konnten kaum noch richtig greifen... so etwas kann man nicht aus Fotos lernen.

Aber... bei dem "verhüllten Stilleben" wollte ich unbedingt, daß eine Katze daneben sitzt. Eigentlich kein Problem; schon oft saß mir meine treue Katze für Zeichnungen Modell, aber als es dann Ernst wurde, wollte sie partout die Stellung nicht halten. Ich verlangte gar nichts Ungewöhnliches von ihr... eine ganz typische Katzenhaltung... manchmal saß sie stundenlang so... aber als ich beginnen wollte, drehte sie sich um! Ich ging zu ihr und drehte sie wieder zurück... wir redeten ein bißchen... ich kraulte sie ein wenig, sie schnurrte. Ich kehrte an die Arbeit zurück, da begann sie sich zu putzen! Ich sagte: "Mensch Mica... mach doch keinen Quatsch! Denk an Cézanne... ein Apfel bewegt sich doch auch nicht..."
Meine Anregung war sinnlos... sie hatte schon den Futternapf erreicht. So werden Ausnahmen provoziert! Lange bin ich mit dem Fotoapparat hinter ihr her gekrochen, bis ich eine vielversprechende Aufnahme hatte.
Psst! Ich muß jetzt Schluß machen... sie schläft.

Hans-Joachim Billib